„Wir können vor allem von Deutschland lernen“

In Deutschland scheint der Höhepunkt der Corona-Epidemie überwunden zu sein. Andere Länder – gerade in Afrika haben ihn noch vor sich. So zum Beispiel Äthiopien, das etwas zum selben Zeit wie Deutschland Schulen schloss und Anfang April den Ausnahmezustand erklärte. Im Moment hat das ostafrikanische Land bei rund 110 Millionen Einwohner 7120 Infizierte und 124 Tote (9. Juli 2020). Als Mitglied des Partnerschaftsvereins Alem Katema interessiert sich Prof. Frank Martin schon seit langem für Äthiopien – anlässlich der Pandemie haben wir zusammen mit ihm seinen Kollegen Dr. Ayele Teshome für das Magazin „Münchner Ärtzliche Anzeigen“ zur Situation befragt. Die gekürtzte veröffentlichte Fassung finden Sie hier als PDF.

Dr. Ayele, wie ist die Situation im Moment bei Ihnen in Äthiopien?

Als armes Land, dessen Gesundheitssystem nicht gut entwickelt ist, fokussieren wir uns darauf die Verbreitung von Covid-19 zu verhindern. Das markanteste an diesem Virus ist ja seine aggressive Übertragung – und nicht seine Sterblichkeitsrate. Die Risikogruppen kennen wir genau: ältere Personen, Menschen mit Vorerkrankungen, Raucher … Heißt: Wenn sich das Virus ausbreitet und wir zulassen, dass es diese Risikogruppen erreicht, dann haben wir offenkundig nicht genug Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Ärzte, Krankenhauspersonal usw., um alle gleichzeitig zu versorgen. Und alle werden sterben.

Welche Maßnahmen wurden deshalb in Äthiopien ergriffen?

Die erste Phase war in Äthiopien durch Aufklärung der Gesellschaft und Vorbereitung für Antworten auf die Pandemie gekennzeichnet. Die zweite Phase begann mit den ersten Fällen: Schulschließung, Absage von Sportveranstaltungen und auch von öffentlichen Versammlungen für 15 Tage. Ethiopian Airlines strich zunächst die Flüge in 30, dann in 80 Länder, die von Corona betroffen waren. Jeder, der nach Äthiopien einreiste musste sich für 14 Tage in Quarantäne begeben. Nachtclubs in Addis Abeba wurden geschlossen. Äthiopien schloss alle Grenzen und entsandte Militär, um dies zu überwachen. Die äthiopische Präsidentin Sahle-Work Zewde begnadigte Häftlinge – die geringe Strafen verbüßten oder ohnehin bald entlassen worden wären. Die Zunahme von Infizierten und die Verbreitung in einzelnen Gruppen läuteten die dritte Phase ein: Am 10. April bestätigte das Parlament den Ausnahmezustand, Ministerpräsident Dr. Abiy Ahmed vorher unter Berufung auf Artikel 93 der Verfassung erklärt hatte. Wörtlich hatte er gesagt: „Ich rufe jeden dazu auf sich hinter die Regierung und all diejenigen zu stellen, die Versuchen dieses Problem zu bewältigen.“ Er drohte aber auch “schwerwiegende gesetzliche Maßnahmen“ gegen alle an, die diesen Kampf untergraben würden …

Im März hat Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, der äthiopische WHO-Chef gewarnt „The best advice for Africa is to prepare for the worst and prepare today.“ Kürzlich nun titelte die “Financial Times”: “No lockdown, few ventilators, but Ethiopia is beating Covid-19”. Was ist passiert?

Es ist viel zu früh, um zu behaupten, dass “wir COVID-19 schlagen” – aber zumindest scheint die Pandemie weniger schlimm zu sein als in Europa und den USA. Verallgemeinerungen sind schwierig, mögliche Gründe dafür könnten aber sein: Unsere Bevölkerung ist jünger, wir haben nicht so viele Menschen mit Vorerkrankungen und nicht so viele Rauchern. Indes ist bei uns ein strikter “Lockdown” unrealistisch, da es so viele Menschen gibt, die kein zuhause haben. Oder sie haben eine Wohnung, müssen aber im Freien schauen, wie sie täglich über die Runden kommen. Allerdings gibt es die strikte Vorschrift Gesichtsmasken zu tragen und bei allen Dingen Abstand voneinander zu halten.

Die Infektionszahlen steigen jedoch weiter – in Äthiopien und ganz Afrika. Was brauchen Sie in dieser Krise am dringendsten?

Ich denke es wir bei uns sehr bald eine Veränderung in der Vorgehensweise geben: Asymptomatische Fälle und leichte Infektionen werden wir in den eigenen vier Wände behandeln – mit ein paar Isolationsempfehlungen. Unsere Aufgabe als Gesundheitseinrichtung wird es dann sein die schweren Fälle zu behandeln. Damit haben wir dann vor allem folgenden Bedarf: die Stärkung unserer beruflichen Sicherheitsmaßnahmen, um unser knappes Personal zu schützen. Sonst bekommen wir große Schwierigkeiten! Es geht also darum mehr Ressourcen in unserem Gesundheitssystem für die 20 Prozent schweren Covid-19-Fälle freizuschaufeln. Dazu gehören auch mehr Behandlungsräume oder temporäre Behandlungszentren, mehr Beatmungsgeräte und bessere Sauerstoffversorgung. Wir dürfen aber nicht unsere Behandlungen vergessen, die nichts mit Covid-19 zu tun haben. Viele Menschen können an einfachen und einfach zu verhindernden Krankheiten sterben, nur weil wir all unsere Ressourcen auf Covid konzentrieren.

Am Yekatit 12 Medical College unterrichten Sie auch viele Medizinstudenten. Gibt es Erfahrungen und Erkenntnisse zum Thema “Wie ich den Virus mit fast nichts bekämpfe“ von denen wir in Deutschland lernen können?

Wir können vor allem von Deutschland lernen – wie man es schafft, die Ausbreitung des Virus in kurzer Zeit einzudämmen. Was wir einbringen könnten wäre “Kämpfen ohne Lockdown”. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine Option für Deutschland. Andererseits können wir wiederum von der Disziplin Ihrer Gesellschaft gegenüber Regierungsanordnungen und Ihrem ausgereiften Gesundheitssystem lernen.

Sie kommen aus der kleinen Stadt Alem Ketema im Hochland Äthiopiens. Sie haben im dortigen Krankenhaus auch als Chefarzt gearbeitet. Was sind die speziellen Herausforderungen der Corona-Epidemie in so abgelegenen Gebieten?

Vor allem der Zugang zu Sicherheits- und Schutzausrüstung (PPE) ist hier eine große Sorge. Und natürlich die Fähigkeit, schwere Fälle zu behandeln, vor allem die, die intensive versorgt werden müssen. Es gibt dort weder die Fachkenntnis noch mechanische Beatmungsgeräte. In ländlichen Gebieten wie Alem Katema sind die gesellschaftlichen Bande so eng – bei Hochzeiten, religiösen Festen, Begräbnissen. Wenn es dort einen Infizierten gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich das Virus schnell verbreitet. Unser kleines Krankenhaus ist damit schnell an seiner Kapazitätsgrenze. Wir müssen also alles dafür tun, dass der erste Fall schnell im Krankenhaus isoliert wird.

Sie fahren oft in ihre Heimat, um dort zu operieren oder spezielle Fälle zu behandeln. Was können Sie im Moment für Ihre Leute machen?

Bewusstsein für das Thema schaffen ist das allerwichtigste. Wir geben den Verantwortlichen vor Ort regelmäßig Ratschläge zu den notwendigen Maßnahmen. Auch unterstützen wir das Krankenhaus technisch – bei den notwendigen Vorbereitungen. Hier in Addis Abeba haben wir alle diese Herausforderungen schon gehabt und diese Learnings können wir mit ihnen teilen. Und das machen wir auch!

Alem Katema hat mit der Gemeinde Vaterstetten seit mehr als 25 Jahren eine Städtepartnerschaft. Gab es hier Unterstützung in der momentanen Krise?

Es wurde sehr viel gemacht! Beim Kauf von Schutzausrüstung in Äthiopien und in Deutschland war ich als Berater beteiligt. Ich weiß, dass gerade eine ganze Kiste mit medizinischem Gerät unterwegs aus Vaterstetten nach Alem Katema ist. Da drin sind: Ultraschallgeräte, Sauerstoffkonzentratoren, Pulsoximeter, Infrarotthermometer, Schutzanzüge …

… was wird noch gebraucht?

… Beatmungsgeräte, Test-kits – der Partnerschaftsverein hat eine detaillierte Liste auf seiner Website. Wir haben aber vor Ort nur wenige Ärzte – und wenn unsere Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend gut gestaltet sind, dann kann ein einzelner Infizierter einen Krankenhausmitarbeiter anstecken und dieser wiederum alle anderen. Wir können uns vor Ort für die Mitarbeiter keine Quarantäne leisten – deshalb brauchen wir in systematisches Design: für den Patientenfluss, für die Infektionsverhinderung und alle Kontrollmaßnahmen. Das muss so schnell wie möglich passieren und das braucht natürlich Fachkenntnis, Ratschläge und Betreuung. Vielleicht können wir auch dafür als Partner ein Krankenhaus in München oder Umgebung finden …

Hier geht es zur Materialliste für Alem Katema

Über Dr. Ayele Teshome (40):
Geboren und aufgewachsen in Alem Ketema (Bundesland Amhara, Äthiopien), studierte er Medizin in Addis Abeba. Er He specialized as an Geburtshelfer und Gynäkologe. Von 2021 bis 2016 arbeitete er in seiner Geburtsstadt, danach für das Äthiopische Gesundheitsministerium im Bereich Dienstsleistungsqualität. Von Dezember 2016 bis September 2018 war er medizinscher Direktor des St. Peters Specialized Hospital in Addis Abeba. Seitdem ist er Probst des “Yekatit 12 Hospital Medical College”. Dr. Ayele Teshome war schon oft in Deutschland und hat hier viele Freunde. Lukrative Angebote im Ausland zu arbeiten hat er nie angenommen.

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